Vom 11. bis 12. Juni 2022
Wenn der Frühling kommt, erblüht in Pankow nicht nur die Flora, sondern auch die Kreativität. Darum konnten wir von der KulturMarktHalle uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen, herzuzeigen, was unsere kreativen Köpfe zu bieten haben – und zwar im Rahmen des 6. Pankower Art Spring Festivals. Ein ganzes Wochenende lang konnten Besucher*innen beim offenen Atelier der Kulturmarkthalle die Werke verschiedenster Künstler*innen aus dem KMH-Kosmos bestaunen.
Der Mythos ist hin – Hoch lebe der Mythos!
Das diesjährige Artspring Festival stand unter dem vieldeutigen Motto: Der Mythos ist hin?!
Zwischen Corona-Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg spitzt sich die Lage auf unserem schönen Planeten immer wieder zu. Sicherheit, körperliche Unversehrtheit und eine bessere Welt für zukünftige Generationen – alles Mythen, die wir ein für alle Mal begraben müssen? Sind wir Gefangene der Machtverhältnisse, der vorgegebenen Strukturen? Oder können wir, indem wir auf die Warnsignale hören, indem wir alte Vorstellungen und eingefahrene Wege verlassen, einen neuen Mythos, eine neue Welt erschaffen?
In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Arbeiten der ausstellenden Künstler*innen. Mal warnend, mal verspielt, mal hoffnungsvoll sind ihre Raum- und Videoinstallationen, Grafiken, Fotografien, Collagen und interaktiven Werke dem (verlorenen) Mythos auf der Spur.
Holger Bey – Der Bedrohung ins Auge sehen
Soundinstallation / Fotocollage / Wortkunst
Als am 24. Februar 2022 russische Truppen die Ukraine angriffen, wachte auch der vermeintlich „sichere“ Westen in einer anderen Welt auf. Einer Welt, in der die Bedrohung wieder auf der Tagesordnung steht, in der ein verheerender Atomkrieg möglich erscheint.
Vor diesem Hintergrund greift Choreograph und Theaterkomponist Holger Bey mit seiner Trilogie aus Soundinstallation, Fotocollage und Wortkunst unsere tiefsten Ängste auf.
Vom Verlust eines einzigen Buchstabens hin zum Verlust der Welt, wie wir sie kennen, gleicht jedes Element der dreiteiligen Installation einem Damoklesschwert, dass an einem seidenen Faden über unseren Köpfen hängt. Auch wenn die Schlagzeilen verstummen, die Bedrohung ist da, sie ist echt.
Das bringt die zentrale Collage mit Atompilz und Schwan zum Ausdruck. An den Rändern ist die Welt schon von Schwärze verschluckt, die Druckwelle der Explosion rast auf uns zu, der Schwan kippt schon zur Seite, er ist dabei, sich aufzulösen, halb hier und doch schon fort. Es ist die Sekunde vor dem Weltuntergang, und uns bleibt nichts anderes übrig als zu fragen: Wieviel Zeit haben wir noch? Können wir uns überhaupt noch retten?
Dass die Schwanenphotographie vom Teich im Volkspark Friedrichshain stammt, wo auch die Weltfriedensglocke zum Gedenken an den Atombombenabwurf in Hiroshima steht, kann durchaus als prophetische Warnung gedeutet werden.
Wie schon das an das hinduistische Glückssymbol angelehnte Hakenkreuz des Nazi-Regimes steht der auf russische Panzer und Waffen gezeichnete Buchstabe Z für die Bedrohung durch den russischen Invasor. Ein harmloser Buchstabe, der durch Vereinnahmung plötzlich eine neue, angsteinflößende Bedeutung erlangt. Was geschieht, wenn man ein unliebsames Element – das Z – aus dem Sprachgebrauch verbannt? Alles verändert sich, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit, die Worte büßen ihren Sinn ein, oder es entstehen neue Worte und Klänge, neue Zusammenhänge, die erst entschlüsselt werden müssen. Deutlich wird in jedem Fall, dass etwas fehlt – ein Zeichen, eine Sprache, ein für selbstverständlich erachteter Frieden.
Die tiefen Klänge der selbstgebauten Stahlblechharfe spiegeln dieses Gefühl der Bedrohung. Die halbrunde Harfe, mit Saiten von Bass-, Konzert- und E-Gitarren kann von mehreren Spieler:innen gleichzeitig gespielt werden. Die Zuschauer:in wird selbst zur Akteur:in, zur Spieler:in, die atmosphärischen, dunklen Klänge ergeben eine warnende Symphonie im Spannungsfeld von Selbstverschulden und Selbstermächtigung: Was tragen wir selbst zum Zustand der Welt bei? Können wir etwas tun, um das Schlimmste abzuwenden?
Sonja Kirschning – Du bist die Kurator:in
Interaktive Installation / Werkschau
Von individueller Schaffenskraft und Selbstermächtigung im Kontext von Geschichte und Zeitgeist handelt auch die Installation der Künstlerin und Kunsthistorikerin Sonja Kirschning.
Wie können wir mit dem, was uns kulturell und historisch zur Verfügung steht, etwas Neues und Eigenes erschaffen? Mit Collagen und Fotographien aus verschiedenen Schaffensperioden stellt die Künstlerin immer wieder die Frage nach dem Kontext. Das Zitat wird zum spielerischen Stilmittel und spannt den Bogen zwischen den Polen „Nachahmung“ und „Originalität“. Letztere wird in der abendländischen Moderne, in der das Individuum ins Zentrum des politischen und kulturellen Zeitgeschehens gehoben wird, als Non-Plus-Ultra des künstlerisch-kreativen Prozesses verstanden. Fernöstliche Traditionen, in denen das kollektive Bewusstsein eine übergeordnete Rolle spielt, valorisieren hingegen die Fertigkeit der nachahmenden Künstler*in, die erst eine gewisse Stufe an Meister*innenschaft erlangen muss, bevor das eigene Schaffen Überhand nehmen darf.
„Wenn wir nicht wissen, wo wir herkommen, können wir nicht verstehen, wo wir hingehen…“ könnte ein Motto dieser eklektischen Werkschau sein.
Die Erinnerung als Wegweiser für Gegenwart und Zukunft
Während ihrer Tätigkeit für ein Kunst- und Architekturarchiv digitalisierte Sonja Kirschning unzählige Dia-Aufnahmen von Kunstwerken aus verschiedenen Epochen. Im Spannungsfeld von Originalkunstwerk und Abbildung entpuppte sich das Dia selbst als (Kunst)-objekt mit eigenem Bildtitel und eigener Karteinummer. Das vom Archivleiter angeregte kunsthistorische Analysemethode des „Vergleichenden Sehens“, bei dem die Abbildungen zweier Kunstwerke verschiedener Stile und Epochen nebeneinandergelegt und verglichen werden, inspirierte die Künstlerin zu den ausgestellten DIA-Superpositionen im Postkartenformat.
Durch das Übereinanderlegen mehrerer Dia-Filme werden die abgelichteten Kunstobjekte aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgehoben - hinein in einen neuen, unerwarteten Kontext. Religiöse und klassische Motive lassen sich plötzlich im Zeitgeist der Postmoderne lesen und werfen Fragen nach Genderidentität, Subkultur oder Feminismus auf. Mythen, die uns in Stein gemeißelt erschienen, brechen auf und bieten ein Sprungbrett für neue Interpretationen und Herangehensweisen.
Die Aneignung und Umgestaltung des Schon-da-Gewesenen spielgelt sich auch in den anderen Stücken dieser Werkschau. Mit ihren Selbstportrait-Collagen zitiert die Künstlerin das Universum des surrealistischen Malers René Magritte. Während ihrer Tätigkeit als künstlerische Assistenz von Bernd Ribbeck fotografiert Sonja Kirschning „Werkränder“ – jene Farbkleckse, die an den Rändern eines Gemäldes auf dem sonst unwichtig erachteten „Schmierpapier“ entstehen und, sobald das vollendete Werk in die heiligen Hallen einer Galerie oder eines Museums getragen wird, unbeachtet zurückbleiben. Durch die Infokusnahme dieser intentionslos entstandenen „Rahmen“ als Spuren und Beweisstücke des eigentlichen Schaffensprozesses transformiert die Künstlerin ihre Banalität und erhebt sie durch den Akt der Aufmerksamkeit in den Olymp des eigenständigen Kunstwerks.
Denn so wie der biblische Gott den Menschen aus Erde – also aus etwas bereits Vorhandenem – erschuf, schafft der Mensch, ob er will oder nicht, auch aus dem Zeitstrahl des ihm Vorangegangenen. Dass dieser Prozess nicht nur der Künstler*in allein vorbehalten ist, unterstreicht Sonja Kirschning mit ihrer interaktiven Installation unter dem Motto: „Du bist die Kurator*in!“, bei der Besucher*innen zum Subjekt und Akteur*innen der begangenen Ausstellung werden. Mit Hammer und Nagel ausgestattet, ist jeder angehalten, die Position eines Werkes an der Wand selbst zu bestimmen. Durch diesen Akt der Gestaltung und Anordnung wird die passive Betrachter*in selbst Teil der Ausstellung – zweifelsfrei ein Akt der Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung.
Thari Jungen – Ein Manifest für den Fake
Während das Zitat noch direkt und unmissverständlich auf das ihm vorangehende Original verweist, geht der Fake einen Schritt weiter und erweist sich im besten Fall als perfekte Mimikry und geschickter Verschleierungskünstler seiner wahren DNA. Immer wieder ereilen uns Schlagzeilen von talentierten Kunstfälscher*innen, denen es zum Teil über Jahrzehnte hinweg gelingt, Kunsthändler*innen, Expert*innen und Sammler*innen hinters Licht zu führen.
Der Theoretikerin und Gründerin des Instituts für Falsifikate (IFF) Thari Jungen geht es jedoch nicht um die simple Analyse von Kunstfälschungen. Das „IFF“ versteht sich als Künstler*innenkollektiv und will mit seiner Forschung ergründen, wie Fakes zu gesellschaftlicher und politischer Teilhabe beitragen oder gesellschaftlichen Ausschluss befördern. Die Frage, die ihre Arbeit stellt, ist, inwiefern Fakes und Fälschungen als ubiquitäres Kulturwerkzeug durch das, was an ihnen falsch ist, Gesellschaft konstituieren.
In seinem Plädoyer „Fake it“ stellt das Institut für Falsifikate 10 Kriterien für die Funktionen von Fakes zusammen:
Ein Fake ist ein Fake ist ein Fake
East Los Angeles 2015. Im untersten Stockwerk eines Swap-Meet eröffnet im Projektraum Selecto Planta Baja das vom IFF initiierte Büro für Falsifikation - ein Labor, das Fakes praktisch und theoretisch untersucht. Hier bestellt B. – ein 34-jähriger Amerikaner mit marokkanischen Wurzeln ein Reenactment eines verloren gegangenen Hochzeitsalbums. Das Album selbst war bereits eine Fälschung, hergestellt als Beweis für eine Scheinehe, die B. mit einer Serbo-Kroatin eingegangen war und ihr somit half, ihren Aufenthalt in den USA zu sichern. Die ursprünglichen Bilder, die eine längere Liebesbeziehung dokumentieren sollten, entstanden im Rahmen eines eintägigen Fotoshootings an verschiedenen Schauplätzen in Kalifornien und Nevada. In Kooperation mit dem IFF stellte Thari Jungen die Fake-Bilder des ursprünglichen Albums nach. Mit dem IFF-Logo versehen, ließ sich das Album als Fake identifizieren und wurde im temporären Büro des Instituts für Falsifikate ausgestellt und so selbst zum Kunstobjekt.
Neben anderen gefakten Gegenständen aus dem Archiv des IFF stellte Thari Jungen diese Fälschung des gefälschten und später abhandengekommenen Albums im Rahmen der Art-Spring Ausstellung in der KMH erneut aus. Dieser Fake im Fake erinnert unweigerlich an eine Mise en Abyme (dt. „in den Abgrund stellen“), einen von André Gide geprägten Begriff der westlichen Kunstgeschichte, bei der eine Kopie eines Bildes in sich selbst platziert wird - meist auf eine Weise, die eine bis in die Unendlichkeit wiederkehrende Sequenz suggeriert. Vom Standpunkt der Fälschung aus betrachtet, führt das Ausstellungsstück das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, Realität und Wahrnehmung ad absurdum, sodass wir - wie in einer Dauerschleife - immer wieder mit den Worten Paul Watzlawicks fragen müssen: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“
Die den Archivobjekten beigestellte Stoffarbeit bezieht sich auf die Entstehungsgeschichte des gefälschten Fake-Hochzeitalbums. Das tiefe Blau des kalifornischen Himmels und das Palmenmotiv zitieren das Setting, in dem B. für die Nachahmung der nachgeahmten Pärchenfotos posierte: Der Versuch von Wiederherstellung einer Erinnerung an etwas, das nie „wirklich“ existiert hat.
Marta Leite / Inti Gallardo – Anümka
Installation aus Lichtzeichnungen, Gemälde aus Pflanzenfarben, Super-8mm-Film Stills und Pflanzen
Während die Industrialisierung überall auf dem Erdball weite Teile des natürlichen Lebensraumes für Mensch und Tier verschlingt und viele traditionelle und nachhaltige Verfahren zur Herstellung von Gütern in Vergessenheit geraten lässt, suchen die Künstlerinnen Marta Leite und Inti Gallardo zu ergründen, was von der Weisheit alter naturverbundener Völker noch geborgen und erhalten werden kann.
Fündig wurden die beiden Künstler*innen in Chile. Im Rahmen der Kunstresidenz TTU verbrachte Marta Leite 2021 mehrere Wochen in der Region Bio-Bio und hatte die Gelegenheit, Handwerker*innen des Mapuche-Stammes kennenzulernen. Von den Weber*innen dieses indigenen Volkes erfuhren sie über die verschiedenen Eigenschaften der heimischen Pflanzen, die die Mapuche zum Färben von Stoffen, als Heilmittel oder für Rituale nutzen. Auch Inti Gallardo arbeitete in diesem Zeitraum in Chile an verschiedenen künstlerischen Projekten.
Licht als Nahrung und Material
Anümka – so lautet der Titel dieser Installation. Auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche, bedeutet es schlicht „Pflanze“. Die Installation beinhaltet mit Pflanzenpigmenten eingefärbte Papierzeichnungen von Marta Leite sowie 16-mm-Filmaufnahmen von Inti Gallardo, die erhaltenswerte Pflanzen aus der chilenischen Region Bio-Bio zeigen.
Mit ihren von Pflanzenpigmenten und Sonnenlicht gefärbten Zeichnungen ergründet Marta Leite die organische Dimension des Lebens. Hierbei experimentiert die Künstlerin mit den verschiedenen Eigenschaften von Avocado, Arrayán-Rinde, Maki-Beeren und vielen weiteren färbenden Pflanzenarten, die ebenfalls Teil der Installation sind.
Durch teilweises Abdecken und anschließende stunden- oder auch tagelange Exposition wird das mit Pigmenten versehene Papier vom Sonnenlicht verändert. Die Sonne, die das Nahrungsmittel der Pflanzen ist und ohne deren Wärme kein Leben auf Erden möglich wäre, wird hier selbst zum Material, sie bleicht die Pigmente aus oder lässt sie, wie im Fall der Avocado, dunkler werden. Es entstehen sonnengeborene Formen und Muster - die verschiedenen Facetten von Licht verbinden diese ephemeren Arbeiten mit Filmstandbildern von Inti Gallardo. Das fast obsolete Filmmaterial erinnert an die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge, vor allem aber des feinen Gleichgewichts unserer Natur, das jederzeit unwiederbringlich zerstört werden kann. Gleichzeitig zeugen die Aufnahmen von einer Rückkehr zum Ursprung. Während Lichtnahrung die Pflanzen wachsen ließ, geschieht durch die chemische Ablichtung ein Transformationsprozess, der sie wieder in Licht verwandelt.
Die Dimension des Vergänglichen spielt bei diesen Arbeiten eine zentrale Rolle: Angesichts von Industrialisierung und dem Einzug von Eukalyptus- und Kieferplantagen ist der ursprüngliche Lebensraum der Mapuche sowie die Existenz ihrer traditionellen Pflanzenarten bedroht.
Was es bedeutet, im Einklang mit der Natur zu leben, ihre Gaben zu respektieren und von ihr nur das zu nehmen, was man wirklich braucht, erfuhr Marta Leite bei gemeinsamen Spaziergängen mit den Weberinnen des indigenen Stammes, bei denen sie Pflanzen und Kräuter für das Färben, aber auch für medizinische Zwecke oder magische Rituale sammelten.
Die Bedrohung dieser uralten Kultur, ihres Wissens und Lebensraumes schwingt in der physischen Qualität der Papierarbeiten mit. Durch ihre Lichtempfindlichkeit verändern sie sich ständig, bleichen mit der Zeit aus, nach und nach verschwinden Formen und Muster und hinterlassen nur wenig Spuren.
Und doch sind sie auch Zeugnis von Hoffnung und Transformation: Die Arbeiten sind zum Teil aus Pigmenten von vermeintlich „unnützen“ Gewächsen entstanden. So erhalten letztere eine neue Daseinsberechtigung jenseits ihrer ursprünglichen Konnotation als „Unkraut“.
Neben dem Nachhaltigkeitsgedanken drängt sich hier noch eine metaphysische Ebene auf: Alles in der Natur seinen Platz, hat eine Bestimmung, einen tieferen Sinn, den es zu ergründen und zu schützen gilt.
Danke für den Text. Spannend zu lesen und inspirierend.